Schwarzes Hamburg > Musik und Bands

Ist Streaming bald am Ende?

(1/13) > >>

RaoulDuke:
Ich bin seit vielen Jahren beigeisterter Kunde bei der weltgrößten Musikstreaming-Plattform. Und ich meine begeistert - die Bibliothek ist auch in kleinsten Randbereichen fast vollständig, und ich fühle mich oft, als hätte ich als kleiner Junge eine riesige Bonbonkiste gefunden. Als Musikfan höre ich immer etwas, wenn ich unterwegs bin, Musik, aber auch Podcasts, höre die Band-"Radiosender", bei denen Musik gezeigt wird, die von Fans der Band, bei der ich gelandet bin, auch gehört wird - und so bin ich auf einer nie endenden Entdeckungsreise durch die Musikgeschichte, von Beethoven bis Black Metal, es ist alles dabei.

Meine große CD-Sammlung habe ich allerdings nie aufgegeben, wenn auch schn lange nicht mehr verwendet und schon gar nicht ergänzt. Heute morgen wurde ich allerdings schmerzhaft daran erinnert, dass die Monopolisierung des Musikzugangs auch seine Schattenseiten haben kann. Der Grund ist eigentlich der, der auch schon den Monopolisten Facebook für mich unbenutzbar gemacht hat: Die Politisierung von einfach Allem.

Der konkrete Anlass war die Ankündigung von Neil Young, seine Musik bei Spotify löschen zu lassen bzw. nicht mehr zur Verfügung zu stellen, weil ein Podcaster namens Joe Roghan dort nach seiner Ansicht Falschinformationen über Corona verbreite. Nun kenne ich Joe Rogan nicht, und er ist mir auch egal. Neil Young kenne ich aber schon, und höre sogar gelegentlich etwas von ihm. Ich könnte auf ihn in meiner Playlist zwar auch verzichten, aber es hat sich mir ein Szenario aufgedrängt, das mich am Ende sogar von Spotify vertreiben könnte, wie einst von Facebook. Und zwar das Folgende:

Es gibt zwei Möglichkeiten, wie das Problem gelöst werden kann: Joe Rogan bleibt, Neil Young bleibt weg. Dann werden andere Künstler um Herrn Young unter Druck geraten, "Haltung" zu zeigen und dem Beispiel zu folgen. Neil Young hat ja seine politische Haltung zu einem zentralen Element seiner Musik gemacht, was ja auch OK ist, und er ist Vorbild für viele andere. Er hat andere auch aufgefordert, mitzumachen. Mit etwas Pech müssen irgendwann alle Künstler, die der Counterculture der 60er nahestanden, gehen, weil ihre Fans rebellieren, wenn sie es nicht tun. Sie zeigen schließlich sonst keine "Haltung". Aufgrund der großen Zahl der betroffenen Bands und Fans wird Spotify wahrscheinlich genötigt werden, dem zuvorzukommen, und Joe Rogan von der Plattform nehmen müssen. Dann geht die Spaltung in umgekehrter Richtung weiter. Wie kann Jordan Peterson auf einer Plattform bleiben, die so etwas wie Zensur betreibt oder sich zumindest durch ökonomischen Druck dazu bringen lässt, die verfämte "Cancel Culture" zu betreiben, die Herr Peterson so vehement bekämpft?

Die Plattform wird sich (mit etwas Pech) entscheiden müssen, ob sie Vielfalt oder Haltung vertreten möchte. Das ist nicht neu, ähnliches betrifft ja auch Facebook, Twitter, die Veranstaltungen Golden Globes und die Oscar-Verleihung, die Online-Plattformen Parler und GAB, Telegram, diverse Spieleplattformen und am Ende eigentlich die ganze Gesellschaft. Nur so ein kleines Forum für Grufties im Raum Hamburg hat bisher es geschafft, diesem Schicksal einigermaßen zu entgehen, wenn auch unter Schmerzen. ;)

Naja, Jordan Peterson würde Dennis Prager folgen, dann würde die Glenn Beck Show fallen, dann vielleicht diverse Country- und Folk-Künstler, dann frisst sich die politische Korrektheit beider Lager immer tiefer rein, und man kann sich ausmalen, wie es dann weitergeht: Am Ende ist die Bonbonschachtel halbleer, und wenn die Mehrzahl der Plattformen ein Beispiel ist, werden nur noch Bonbons auf der linken Seite liegen. Man kann dann aufwendig und teuer eine kleine, schlechter gemachte Bonbonschachtel dazuabonnieren, auf der einige Bonbons auf der rechten Seite liegen, aber wenn die anderen Plattformen ein Beispiel sind, werden am Ende einfach viele Bonbons fehlen.

Dumm für Leute, die Musik als solche gut finden und dabei Politik-agnostisch sind. Ich höre Slime, aber auch Dolly Parton. Neofolk finde ich toll, 60s Hippie-Bands aber auch. Ich kann den satanischsten nordischen Black Metal hören und für seine Energie und Kunstfertigkeit bewundern, und am nächsten Tag laufen Bach-Kantaten im Wohnzimmer.

"Keep on rockin' in the free world" sang Neil Young einst. OK, ich ziehe den Refrain aus dem Kontext, aber ich würde gerne weiterrocken in der freien Welt, ohne politisch korrekten Cancel Culture-Filter, wer auch immer da hängen bleiben würde.

Zeit, wieder CDs zu kaufen? Die kann man wenigstens nicht aus dem Schrank löschen, wenn sie mal in politische Ungnade fallen.

nightnurse:
Bisschen clickbaity dramatischer Threadtitel? ^^

Das Phänomen, das Du beschreibst, ist doch nicht neu.
Früher hat der Ladeninhaber entschieden, was er sich in die Regale (oder den Katalog) stellte und wenn man unzufrieden war, daß da Slime bzw. Störkraft stand oder nicht stand, ging man da nicht einkaufen und stattdessen woanders hin, wo einem das Sortiment (und die damit vermittelte Haltung) besser gefiel. Die Künstler hatten darauf allerdings keinen Einfluss.
Heute gibt sich die Plattform überpolitisch und die Künstler überlegen sich, ob ihnen das gefällt. Womöglich setzt das nen Trend. Kann sein. Tja.

Das wird wohl kaum das Ende von Musikstreaming bedeuten. Es wird nur vielleicht für den Endverbraucher  unhandlicher (und teurer) werden, weil man evtl mehrere Plattformen benutzen muss. So wie damals.

Man soll übrigens auch Musik ohne physischen Tonträger kaufen können. Habe ich mir erzählen lassen. Teurer als Streaming, billiger und platzsparender als CDs. Auf Bandcamp gibt es manchmal Supersonderangebote, die sogar mich in Versuchung bringen ;D

BaerndME:

--- Zitat von: RaoulDuke am 27 Januar 2022, 11:40:49 ---Die Plattform wird sich (mit etwas Pech) entscheiden müssen, ob sie Vielfalt oder Haltung vertreten möchte. Das ist nicht neu, ähnliches betrifft ja auch Facebook, Twitter, die Veranstaltungen Golden Globes und die Oscar-Verleihung, die Online-Plattformen Parler und GAB, Telegram, diverse Spieleplattformen und am Ende eigentlich die ganze Gesellschaft. Nur so ein kleines Forum für Grufties im Raum Hamburg hat bisher es geschafft, diesem Schicksal einigermaßen zu entgehen, wenn auch unter Schmerzen. ;)

--- Ende Zitat ---

Nicer Seitenhieb. :D


--- Zitat von: RaoulDuke am 27 Januar 2022, 11:40:49 ---...dass die Monopolisierung des Musikzugangs auch seine Schattenseiten haben kann. Der Grund ist eigentlich der, der auch schon den Monopolisten Facebook für mich unbenutzbar gemacht hat: Die Politisierung von einfach Allem.

--- Ende Zitat ---

Verstehe ich jetzt nicht ganz. Wenn Schboddifei ein Monopol hat, was sind dann Tidal und Quobuz?

Ansonsten verstehe ich das Dilemma. Es ist auch hammerhart schwierig.
Ich bin total für Meinungsfreiheit, diese ist ein so ultrawichtiges Gut.

Wir haben eine neue Situation, eine neue Qualität.

Seit dem Ende des 2. Weltkrieges haben Verschwörungsmythen keine, oder kaum noch, Todesopfer gefordert. Zion-Dingsbums, Flatearthler, neurechte Friedensbewegung, alles Phänomene, die man auch da lassen und deren Anhänger man als "Spinner" abtun kann - um der Meinungsfreiheit Willen. Der Holocaust war bisher das letzte geschichtliche Ereignis, wo ein Verschwörungsmythos Menschenleben kostete.
Und heute... https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/tote-corona-leugner-wenn-nicht-sein-kann-was-nicht-sein-darf,SuONlPT

Es ist immer eine Gradwanderung, und ich bin davon überzeugt, dass wir weiter sind, an einem Punkt, an dem es nicht mehr einfach nur noch um "Haltung zeigen" geht. Es ist mehr als "Haltung". Es geht um Menschenleben.

Es ist überall so, nicht nur beim Musikstreaming.

Man könnte aber eine Lektion lernen: Ob die Öffnung eines MUSIK-Streamingdienstes für (politische) Podcasts eine gute Idee ist. Oder ob man bei Musik bleiben sollte.
Man kann auf Spotify ohne Probleme Burzum hören, bei der Suche nach Störkraft oder Landser sieht es schon schlechter aus. Hier hat man ja offenbar schon Regularien, die sicher auch nicht jedem passen, die aber noch keinen Massenboykott der Plattform ausgelöst haben.

Jack_N:
ich persönlich fände es sowieso schön, wenn bei Spotify überhaupt keine Podcasts oder Hörbücher zu finden wären. Nichts ist nerviger als wenn man in allen neu zusammengestellten "Mix der Woche"-Folgen plötzlich Hörbuchfetzen (ja auch nur einzelne Episoden, mittendrin) findet, nur weil man einmal auf der Plattform ein Hörbuch gehört hat.
Also: Kann weg, ist keine Kunst :P

Ansonsten haben wir hier das Phänomen der rein finanziellen Abwägung: Wie viele Leute hören den Rogan, wie viele Leute Neil Young? Wie viele Musiker, die oft gehört werden, folgen seinem Beispiel?
Wie lange wartet Spotify hier mit einer Entscheidung, haben sie bis dahin Hörer und Künstler unwiderbringlich verloren? Zumal ja auch die Auszahlungsmodalitäten bei dem Laden oft eher mau sein sollen.

Tidal scheint nochmal für Musik einen Aufwind zu bekommen, ist aber nicht so vielfältig. Audible bleibt als Nummer1 für Hörbücher.

Wo ich Dir, Raoul, aber widersprechen muss ist die Vielfalt. Spotify ist mir gerade in den letzten Jahren primär dadurch aufgefallen, dass "unangenehm-politische" Musik auf der Plattform sich breitgemacht hat. Von eindeutig-zweideutigem Deutschrock, über auf einmal auftauchende russische Songs zweifelhafter Qualität wird einem immer mehr solches Zeug in die "Neu" und "Mix der Woche"-Playlists gespült, vor allem da man es beim reinen Nebenbeihören auch manchmal schlichtweg nicht mitbekommt (könnte auch Eisbrecher sein oder so).

Und dann nervts, weil man wieder einzelne Bands aus seinen Hörvorlieben blocken muss, damit man nicht ständig damit bombardiert wird, der Algorithmus aber nicht erkennen kann, dass die Texte das Problem sind und nicht der Musikstil. Also hat man 2 Wochen später wieder so einen Scheiss im neuen Mix.

Wenn man nur gezielte Oldies hört geht das. Aber wer die Plattform wirklich nutzen will um Musik zu entdecken, der trifft teilweise echt auf... grenzwertigen Mist.


Edit: Grad Zahlen gelesen. Neil Young kommt bei Spotify auf ca. 6,5mio Aufrufe pro Monat. Rogan auf über 200 Millionen...

nightnurse:

--- Zitat von: BaerndME am 27 Januar 2022, 14:06:07 ---Ansonsten verstehe ich das Dilemma. Es ist auch hammerhart schwierig.
Ich bin total für Meinungsfreiheit, diese ist ein so ultrawichtiges Gut.

--- Ende Zitat ---

Was übrigens stimmt.

Ich bin nur nach wie vor befremdet, daß wir die Wahrung dieses Gutes mehr und mehr von Privatunternehmen abhängig machen.
Facetwittyougram haben alle ihre AGB, wer mitmischen will, muss die abnicken, wenn da drinsteht [Zeug] ist bei uns verboten, dann isses halt so. Wenn die die AGB ändern und auf einmal ist [anderes Zeug] verboten, ja, tough shit?

Auch die Streamingdienste sind private Unternehmen, die können (im Rahmen geltender Gesetze) anbieten, was sie wollen. Oder eben nicht. Ich kapiere nicht, wie man da mit einer "ihr müsst aber weil Meinungsfreheit"-Haltung rangehen kann. Echt nicht.
Schon zu Analogzeiten waren weder Zeitung noch Radio verpflichtet, Leserzuschriften zu veröffentlichen oder alles zu ventilieren, was man ihnen an Artikeln oder Musik zuschickt. Warum erwartet man das jetzt von Internetanbietern?

(Tschuldigung, frage ich mich schon lange ::) )

Zur freien Meinungsäußerung gehört aber nun mal auch die Freiheit, den Laden zu verlassen, wenn einem nicht gefällt, was da passiert. Wenn das ausreichend viele Leute tun, muss der Laden vielleicht mal drüber nachdenken. Der Markt regelt :]


Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

Zur normalen Ansicht wechseln